„Mit einer Literaturausstellung kann man besser lesen”

Im Gespräch mit Heike Gfrereis über Sichtbares und Unsichtbares, Erwartungen aneine Literaturausstellung und die Sinnlichkeit von Lyrik.

 

Carolin Schmidt

Was lesen Sie derzeit?

Beides zum zweiten Mal: Wolfgang Herrndorfs Tschick (für die Seele) und Dantes Divina Commedia (für das Seelenheil).

 

Was genau ist Ihre Aufgabe als Leiterin der Literaturmuseen Marbach?

Als Abteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach betreut die Museumsabteilung in Abstimmung mit dem Direktor die Ausstellungen der Museen, den laufenden Betrieb und die   dazugehörigen   Vermittlungsangebote   und   Publikationen.   Die Abteilungsleitung koordiniert diese Arbeiten. Dazu kommt, dass wir gerade in den letzten Jahren viele Wechselausstellungen und alle Dauerausstellungen selbst gemacht haben. Dabei haben wir dann  immer  auch  eine  Theorie  des  Literaturausstellens  und  der  Literatur  im Archiv, besonders der Materialität von Denken, Schreiben und Lesen mitgeschrieben, so dass wir neben  der  Praxis  auch  einen  hohen  Forschungsanteil  haben,  den  wir  dann  wieder dokumentieren und zur Diskussion stellen.

 

 

Was kann eine Literaturausstellung leisten?

Eine  Literaturausstellung  kann  uns  zeigen,  dass  die  Literatur  nicht  nur  aus  luftigen Erscheinungen besteht. Sie gibt uns ganz konkrete Gegenstände in die Hand, die uns oft auch unerwartete Sichtweisen schenken, weil wir sehen, was hinter einem Text steht und wie sein ganz buchstäblicher Unterbau aussieht – mit all dem, was an Zeit und Raum und Individualität dazugehört und was wir uns oft hätten nie träumen lassen. Das heißt: Mit einer Literaturausstellung kann man tatsächlich besser lesen.

 

 

Inwiefern unterscheidet sie sich von einer Kunstausstellung?

Ihr Hauptunterschied ist, dass die Besucher eine andere Erwartung haben: Die Dinge, die man in einer Literaturausstellung sieht, sind anders als die einer Kunstausstellung nicht an und für sich ausgestellt. Wir erwarten von vornherein, dass sie nur Stellvertreter sind und für etwas anderes, “Eigentliches“ und „Unsichtbares“ stehen. In Marbach haben wir in den letzten Jahren diese Erwartung umzulenken versucht und die Dinge an und für sich zum Gegenstand und zum Thema gemacht.

 

 

Sie bieten im Literaturmuseum der Moderne die Führung „Lyrik in der Dauerausstellung“ an. Wie wird Lyrik in dieser Ausstellung präsentiert und löst sich der Text zu irgendeinem Punkt vom „Original“?

Lyrik ist die schönste literarische Gattung für eine Literaturausstellung: In der Regel steht der Text auf einer Seite, jeder kann ihn tatsächlich mit dem Sehen auch Lesen und sehr oft ist die sichtbare Form ein substanzielles Element. Lyrik hat die meisten Rückstände einer sinnlich körperlichen Welt, Bewegungsspuren von Hand, Mund, Zunge und Fuß. Das sind dann auch die Stellen, an denen wir in Führungen vom Original weg zum Text kommen, indem wir hier mehr als sonst auch vorlesen.

 

Seit kurzem zeigen Sie Albert Ostermaiers „Poesiekubus“, ein begehbares Gedicht. Wie funktioniert es und wie wird es von den Besucherinnen und Besuchern aufgenommen?

Der  Poesiekubus,  den  Hans  Platzgumer  und  Richard  Schwarz  entwickelt  und  mit Elementen aus                     einem Albert-Ostermaier-Gedicht bestückt haben, wandelt die Bewegungen der Besucher innerhalb eines Lichtfelds bzw. eines Lichtraums in Wort- und Klangimpulse um. Das heißt: Jeder Besucher kann sich so sein Gedicht in einem realen Raum  ertasten  – Wort für Wort oder auch als babylonisches Gewirr. So wie wir es beobachten können, spielen viele Besucher mit dem Kubus und haben Spaß an dieser Erkundung, die auch den eigenen Körper noch einmal anders verortet. Er ist eine sehr konkrete eigentümliche Welt- und Selbsterfahrung.

 

Welche Bedeutung hat der Raum für ein Gedicht?

Gedruckte Lyrik definiert sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durch den leerenPlatz, den sie um sich herum hat, das heißt sie ist ganz primär ein räumliches Phänomen und erscheint auf den ersten Blick als sprachliche Verdichtung und Konzentration, als eigener dichter Raum. Darüber hinaus arbeitet sie extrem mit den paradigmatischen Achsen eines Textes, sie definiert sich nie nur durch Sukzession, sondern durch ihre Vertikalen und Konstanten, an denen sich diese reibt. Sie besitzt also auch einen Binnenraum.

 

Auf  der  Tagung  „Das  Immaterielle Ausstellen“  sprachen  Sie  über  die  verschiedenen Paradigmen von Literaturausstellungen. Ließe sich das Paradigma des „Fertigen und Ganzen“ nicht durch eine Verortung der Ausstellung ähnlich wie bei Theaterstücken oder im Kino mit der Adaption eines Textes widerlegen?

Nur bei der Lyrik, aus den genannten Gründen: Nur hier kann tatsächlich der ganze Text gezeigt werden. Bei Romanen und Dramen müssen Ausstellungen etwas leisten, was für das Theater und den Film leichter ist: Sie müssen die Zeit regulieren, die Laufrichtung vorgeben, Tempi und Perspektiven mit einer Choreografie lenken. Sie müssen dann viel stärker inszenieren und auch führen, was ein Gewinn an Prägnanzsein kann, aber auch ein Verlust an Freiheit. Dann stellt sich immer auch die Frage: Lesen ist so einfach und preiswert, warum es in einer teuren Ausstellung durch eine Adaption ersetzen? Reizvoller als der Begriff der Adaption scheinen mir hier die Begriffe der Analyse und Verfremdung: Eine Ausstellung kann sehr gut einen ganzen Text zerlegen und segmentieren und so an den kleinsten Teilen etwas sichtbar werden lassen, was wir beim Lesen nicht unbedingt erkennen könne, weil wir zu sehr in der Geschichte stecken.

 

Angenommen  es  gäbe  keinerlei  Vorgaben  für  die  Präsentation  eines  Gedichtes.  Sie bekommen  das  Gedicht  auf  einem  normalen  DIN-A4  Papier.  Wie  würden  Sie  es installieren?

Ich  weiß  nicht,  ob  ich  eine  Installation  daraus  machen  würde,  es  also  in  den Ausstellungsraum übersetzen würde, zum Beispiel durch das Hineinschreiben in einen Raum. Je nach Thema kann man es auch so zeigen, wie es ist: als (einziges) Blatt Papier im Raum,  als simuliertes Seitenformat auf einem Display. Oder sich für einen anderen Aggregatzustand entscheiden: Projektion, Ton, Film.

 

Wie lässt sich ein Rhythmus, ein Klang einer Arbeit im Raum mitdenken?

Durch das, was dem Raum seinen Rhythmus und vielleicht auch seinen Klang gibt: das Markieren von Punkten, durch Höhen und Tiefen, Abstände und Verdichtungen, Isolation und Serien, auch durch Richtung, Farbe und Licht.

 

Was sind die Schwierigkeiten/ Möglichkeiten beim Ausstellen von Text? Wie kann man eine Dramaturgie entwickeln, die Spannung erzeugt? Und ist das überhaupt relevant?

Spannung  ist  ein  sehr  relevantes  Element,  das  aber  auch  durch  das  vermeintliche Gegenteil – Klarheit und Übersichtlichkeit – erzeugt werden kann. Hier gilt, wasBrecht für das epische Theater gesagt hat: Je klarer das Was, desto mehr sind wir gespannt auf das Wie. Wichtig ist mir so bei einer Ausstellung, dass sie sehr klar mit ihren Mitteln umgeht, dass ihre Raumbilder auf den ersten Blick schon in der Tür deutlich sind und dass sie dennoch  in  dieser  Form  variieren  und  immer  neue Sichtweisen und Blickpunkte daraus entfalten.  Schwierig  finde  ich  Formulierungen  wie  „Es  ist  für  jeden  etwas  dabei“. Ausstellungen sind keine Pop-Ups in digitalen Räumen, im idealen Fall haben sie einen Sog, sind ein Wurf im Raum, eine Zeigung oder auch eine Erzählung.

 

Wohin  geht  der  Ausstellungstrend  in  Museen  für  Literatur  und  wie  wichtig  ist  die Vermittlung?

Literaturmuseen  bzw.  literaturausstellende  Institutionen  sind  sehr experimentierfreudig geworden. Alles ist möglich. Auch angesichts der öffentlichen Erwartungen an immer differenzierende und diversifizierende Bildungsangebote. Wir versuchen, alles zu wollen und es jedem Recht zu machen. Oft sind digitale Mediendafür dann die idealen Sammelbehälter, auch für verschiedene Vermittlungsformate. Das liegt nahe bei einem Gegenstand, den man eben kaum selbsterklärend zeigen kann und der eine Vielzahl von Textgattungen in seinem Umfeld nötig macht (Legenden,Transkriptionen, Kommentare) und also immer ein wenig zur Bleiwüste tendiert. Dieser Versuch, alles zu wollen, führt immer schnell an die Grenzen. Hier kann die Vermittlung auch sehr früh ein Korrektiv sein, weil sie uns deutlich macht, wie die Zeit und der Raum einer Ausstellung wirklich aussehen, wenn man mit Besuchern hindurchgeht. Wir träumen von einem Universum, in Wahrheit umfasst eine Ausstellung gerade einmal Sekunden und Zentimeter.

 

Welche spannende Ausstellung haben Sie in letzter Zeit gesehen? Was hat Sie daran fasziniert?

Zwei Beispiele: »Der Mönch ist zurück« in der Alten Nationalgalerie – weil es einem dort noch einmal die Lider abschneidet und man ein ganz anderes Gemälde sehen kann als bislang; und „Der rote Faden – Ordnungen des Erzählens “ in der Kölner Kolumba– weil diese deutlich macht, wie wenig man Besuchern erzählen muss und wie leicht sie ihre eigenen roten Erzählfäden finden.

 

Das Interview führte Carolin Schmidt am 1. August 2016 via E-Mail.